S&G Jahrbuch 2020

8 Ausgabe 2/20: Ernst Wolff zum globalen Finanzsystem S&G Hand-Express Stellen Sie sich die Weltwirt- schaft einmal als einen Groß- markt vor, auf dem Bauern ihre Waren anbieten, auf dem Zwi- schenhändler diese Waren auf- kaufen und sie anschließend an Einzelhändler weiterverkaufen. Neben diesem Großmarkt befin- det sich eine Bank, die Kredite vergibt, und zwar an die Bauern und die verschiedenen Händler. Das Geschäft dieser Bank läuft so lange gut, bis eines Tages die Bauern genügend Felder haben, die Zwischenhändler ausrei- chend Autos besitzen und die Einzelhändler ihre Läden abbe- zahlt haben. Jetzt gerät die Kre- ditvergabe der Bank ins Stocken. In dieser Situation kommt der Banker nun auf eine Idee. Er eröffnet auf dem Großmarkt ei- nen eigenen Stand und bietet dort Wetten an. Er lässt die Leu- te darauf setzen, ob an einem Tag mehr Äpfel oder mehr Kar- toffeln verkauft werden. Der Plan des Bankers geht auf. Im- mer mehr Bauern und Händler, aber auch immer mehr Kunden des Marktes nehmen an seinem Wettgeschäft teil. Der Grund: Mit Wetten lassen sich schnell hohe Gewinne machen. Das Ganze bleibt aber nicht ohne Folgen. Mit der Zeit vernachläs- sigen immer mehr Bauern und Händler ihre eigene Tätigkeit. Außerdem hat die entstandene Wettsucht noch eine weitere Fol- ge: Diverse Bauern und Händler verzocken sich und gehen Pleite. Einige wenige dagegen machen Riesengewinne und verabschie- den sich aus ihren Berufen, um Profizocker zu werden. Der größte Gewinner aber ist die Bank, die ja von Anfang an, an jeder einzelnen Wette verdient hat und die aufgrund ihres Infor- mationsvorsprungs am Ende al- le Beteiligten beherrscht und das Spiel grenzenlos zum eige- nen Vorteil manipulieren kann. Und genau das ist die Situation, in der wir uns heute weltweit befinden. Die Ausuferung von Derivaten hat dazu geführt, dass die Realwirtschaft verkümmert und das Wettkasino sich dreht wie nie zuvor. Was sind Derivate? Derivate* sind Finanzpro- dukte, deren Preis sich vom Preis eines anderen Produktes ableitet. Bei diesem anderen Produkt kann es sich um alles mögliche handeln, z.B. einen Rohstoff, einen Aktienkurs oder auch einen Zinssatz. Bei Derivaten setzt man darauf, dass der Basiswert entweder steigt oder fällt, das heißt, ein Derivat ist im Grunde nichts anderes als eine Wette. Der Derivatesektor ist mittlerweile der mit Abstand größte Be- reich des Finanzwesens. Trotz- dem ist er heute noch großen- teils unreguliert und dient Profizockern im Finanzkasino als wichtigste Bereicherungs- plattform. Hedgefonds haben keinen gesellschaftlichen Nutzen Da Hedgefonds wie Banken ope- rieren dürfen, deren Einschrän- kungen aber nicht unterliegen, haben zahlreiche Großbanken entweder eigene Hedgefonds gegründet, oder sie lassen all die Geschäfte, die ihnen verboten sind, über Hedgefonds erledi- gen. Auf der anderen Seite sind diverse Hedgefonds inzwischen so groß geworden, dass ihnen wiederum ein Großteil der Banken gehört. Während klas- sische Spekulanten immerhin noch versucht haben, am Erfolg von Unternehmen teilzuhaben, ist Hedgefonds deren Wohler- gehen vollkommen gleichgül- tig. Im Gegenteil, sie führen deren Niedergang sogar vor- sätzlich herbei, wenn sie da- mit Profit erzielen können. Das heißt, Hedgefonds erfüllen sowohl volkswirtschaftlich als auch gesellschaftlich keinerlei nützliche Funktion, sondern die- nen einzig und allein der Berei- cherung von Spekulanten. Die- se Bereicherung vollzieht sich in unserer Zeit hauptsächlich im Bereich der Derivate. *derivare (lat.) = ableiten Das schlimmste aller Derivate: die Kreditausfallversicherung Die Kreditausfallversicherung ist in den 90er Jahren von einem Team von J. P. Morgan-Bankern erfunden worden und hat bereits zweimal entscheidend dazu bei- getragen, dass das globale Fi- nanzsystem fast kollabiert wäre. Um zu verstehen, wie die Kre- ditausfallversicherung funktio- niert, stellen Sie sich folgendes vor: Sie haben einiges Geld auf der Bank und wollen eine be- stimmte Summe davon einem Unternehmen als Kredit zur Ver- fügung stellen. Dazu schließen sie mit dem Unternehmen einen Vertrag ab, in dem alle Einzel- heiten geregelt werden. Um ganz sicher zu gehen, dass Sie ihr Geld am Ende der Laufzeit auch inklusiv Zinsen zurücker- halten, gehen sie zu einer ande- ren Bank und lassen sich den Kredit versichern. Das heißt, Sie zahlen der Bank einen bestimm- ten Betrag und die Bank garan- tiert im Gegenzug, dass Sie das Geld selbst dann bekommen, wenn das Unternehmen wäh- rend der Laufzeit des Kredits pleite gehen sollte. Jetzt kom- men die Banker von J. P. Mor- gan ins Spiel. Deren Kreditaus- fallversicherung kann nämlich nicht nur vom Kreditgeber, son- dern von jeder beliebigen Per- son oder Institution, die nicht an der Kreditvergabe beteiligt war, abgeschlossen werden. Und das bei beliebig vielen Banken. Es bewirkt, dass sich der Schaden im Fall des tatsächlichen Zusam- menbruchs eines betroffenen Unternehmens vervielfacht, da die Ausfallversicherungen nicht nur an den Kreditgeber, sondern an all diejenigen ausgezahlt wer- den müssen, die Kreditausfall- versicherungen abgeschlossen haben. Wer also über sehr viel Geld verfügt, kann folgender- maßen vorgehen: Er sucht sich ein Unternehmen, das nicht auf festen Beinen steht, schließt massenweise Kreditausfallver- sicherungen darauf ab, kauft es anschließend auf, schlachtet es aus und treibt es in den Ruin. Die Folge: Das Unterneh- men ist pleite, Arbeitsplätze ge- hen unwiederbringlich verloren, aber der Verursacher der Misere streicht ein Vermögen ein. Man glaubt es als Außenstehender kaum, aber das ist im Finanzsys- tem gängige Praxis. Der komplette Vortrag von Ernst Wolff an der 17. AZK-Konferenz (2019) ist zu sehen unter: www.anti-zensur.info/azk17/dieluntebrennt Schlusspunkt ● „Diese Dinge lassen das glo- bale Finanzsystem wie ein Haifischbecken erscheinen. Kann etwa, wer Geld und damit Macht hat, anderen Unternehmen ganz legal Schaden zufügen, sie aus- weiden, sie zerstören und sich dadurch hemmungs- los bereichern? [...] Des- halb besteht eine der wich- tigsten Aufgaben in unserer Zeit in meinen Augen da- rin, diesen auf uns zukom- menden Konflikt zu nutzen und so viele Menschen wie irgend möglich, über den Charakter und die Funkti- onsweise des gegenwärti- gen Geldsystems aufzuklä- ren. Um so die Tür aufzu- stoßen für ein anderes Sys- tem, eines, das nicht einer Minderheit dient, sondern der Mehrheit und das nicht auf Gier, Machtstreben und den Raubbau der Ressour- cen der Erde aufbaut, son- dern auf einer friedlichen, vernünftigen und sozial verträglichen Nutzung die- ser Ressourcen – und das zum Vorteil von uns allen.“ Ernst Wolff Die Redaktion (wie./mik./het.) Derivate – ein gedankliches Experiment zum besseren Verständnis

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